Kanton Aargau: Die Familiengerichte als Erfolgsmodell
Nach zehn Jahren Kindes- und Erwachsenenschutz im Kanton Aargau ziehen die Verantwortlichen eine positive Bilanz.
Für die Zukunft wagen Expertinnen und Experten an der Herbsttagung der Vereinigung Aargauischer Berufsbeiständinnen und -beistände (VABB) vom 2. November 2023 einen Blick in die Kristallkugel: Wie sieht der Kindes- und Erwachsenenschutz im Jahr 2053 aus?
Seit zehn Jahren kümmern sich im Kanton Aargau die Familiengerichte als Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) um den Schutz von Kindern und Erwachsenen. Ihr Ziel ist es, Kinder und Erwachsene in schwierigen Situationen zu unterstützen. Das Obergericht als Aufsichtsbehörde über die Familiengerichte sowie die Vereinigung Aargauischer Berufsbeiständinnen und -beistände (VABB) ziehen eine positive Bilanz zum Gerichtsmodell des Kantons Aargau und wagen einen Ausblick in die nächsten dreissig Jahre.
Bewährtes Gerichtsmodell
Im Kanton Aargau nehmen die Familiengerichte als Abteilung der Bezirksgerichte die Aufgaben der KESB wahr. Das sogenannte Gerichtsmodell, das in der Romandie im Gegensatz zur Deutsch- schweiz weit verbreitet ist, hat sich bewährt. Die neu geschaffene KESB konnte in die gut eingespielten Bezirksgerichte integriert werden. So geniessen die Familiengerichte als KESB in der Aargauischen Bevölkerung heute eine grosse Akzeptanz. Insbesondere im Kindesschutz können Synergien zwischen den eherechtlichen Verfahren (Eheschutz und Scheidung) und den weiteren kindesrechtlichen Belangen genutzt werden. Im Gegensatz zu Kantonen mit einem Behördenmodell ist im Aargau ein und dasselbe Gericht zuständig, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht. Die Vorteile des Gerichtsmodells zeigen sich auch darin, dass aktuell auf Bundesebene unterschiedliche parlamentarische Vorstösse (Postulat 22.3380, Interpellation 21.4620) hängig sind, die die schweizweite Einführung einer Familiengerichtsbarkeit verlangen. Die derzeit laufenden Projekte und Entwicklungen sollen am 27. November 2023 anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung durch das Bundesamt für Justiz vorgestellt und diskutiert werden.
Austausch funktioniert gut
Der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Familiengerichten, den Gemeinden, den Beistandspersonen und Institutionen funktioniert im Kanton Aargau gut. Entwicklungsbedarf besteht insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, da niederschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote aktuell nicht flächendeckend verfügbar und die bestehenden Angebote nicht aufeinander abgestimmt sind. Ist der Zugang zu diesen freiwilligen Angeboten erschwert, so müssen vermehrt Kindesschutzmassnahmen durch die Familiengerichte als KESB angeordnet werden. Dies zeigt sich an der im Schweizer Vergleich leicht erhöhten Quote der Kindesschutzmassnahmen (vgl. nachfolgend Kennzahlen 2022) im Kanton Aargau. Die Politik und die Verwaltung haben die Problematik erkannt (siehe Kasten „Aktive Politik“).
Bericht mit den Kennzahlen für das Jahr 2022
Die Einführung der Familiengerichte hat nur wenig Veränderung in der Anzahl der Schutzmassnahmen gebracht: Die Zahlen der Massnahmen steigt zwar jährlich leicht an, ein Hinweis darauf, dass dies mit der Behördenorganisation zusammenhängt, gibt es aber nicht. Die Zunahme lässt sich vielmehr durch die Bevölkerungsentwicklung, die Überalterung, die Urbanisierung und die damit einhergehende Anonymisierung der Gesellschaft sowie die heutige Vielfalt der Familienmodelle erklären. (siehe Kasten „Kennzahlen 2022“).
Ein Blick in die Kristallkugel – Kindes- und Erwachsenenschutz im Jahr 2053
Anlässlich der Herbsttagung der Vereinigung Aargauischer Berufsbeiständinnen und -beistände (VABB) warfen die Expertinnen und Experten einen Blick in die Zukunft des Kindes- und Erwachsenenschutzes.
Zukunftsexperte Dr. Andreas M. Walker hielt das Hauptreferat mit dem Titel „Die Zukunft wird anders sein als die Gegenwart – Werden auch die Hilfs- und Schutzbedürftigen anders sein?“ Er führte aus, welche Megatrends und Methoden der Zukunftswissenschaften uns helfen, erfolgreich mit den Veränderungen umzugehen, wer die Schutzbedürftigen sein werden und wie diese in der Zukunft optimal begleitet und betreut werden können. In Gruppenarbeiten wurde dies vertieft und interessante Erkenntnisse für den jetzigen Entscheidungsbedarf sowie Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft zusammengetragen.
Urs Vogel, Jurist und Sozialarbeiter, berät und begleitet viele Berufsorganisationen zum Thema Mandatsführung und Organisation im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Er weist in seinem Referat darauf hin, dass „auch in Zukunft das Augenmerk auf der grösstmöglichen Selbstbestimmung und Partizipation der Betroffenen liegt.“
Die Teilnehmenden des Podiums − Urs Vogel, Jurist, Sozialarbeiter und Lehrbeauftragter, Oberrichterin Catherine Merkofer, Präsidentin der Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, Daniel Aeschbach, Gerichtspräsident Bezirk Lenzburg, Michael Widmer, Präsident Verband Aargauer Gemeindeschreiberinnen und Gemeindeschreiber und Arsène Perroud, Vorstandsmitglied Gemeindeammänner-Vereinigung, Präsident KESD Bezirk Bremgarten − setzten sich jeweils aus ihrer Rolle heraus mit den Herausforderungen und möglichen Entwicklungen des Kindes- und Erwachsenenschutzes auseinander.
Am Anlass kam klar zum Ausdruck, dass es das Engagement von allen Beteiligten braucht, um faire und zieldienliche Lösungen zu erzielen.
Aktive Politik
Seit 2019 wurde eine Vielzahl von politischen Vorstössen zur Kinder- und Jugendhilfe eingereicht. Auf Grundlage der Motion Kohler/Brizzi betreffend Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die ambulante Kinder- und Jugendhilfe (GR 20.337), die auf Vorschlag der Regierung als Postulat überwiesen wurde, konnte das Projekt „Klärung Rechtsgrundlage Kinder- und Jugendhilfe“ lanciert werden. Im Rahmen des vom Departement für Bildung, Kultur und Sport (BKS) geleiteten Projekts wird geprüft, ob zur Sicherstellung von flächendeckenden Kinder- und Jugendhilfeangeboten in einheitlicher Qualität im Kanton Aargau ein eigenständiges Kinder- und Jugendhilfegesetz geschaffen oder bestehende Rechtserlasse angepasst werden sollen.
Kennzahlen 2022
Bereits zum vierten Mal wird der Kennzahlenbericht zum Kindes- und Erwachsenenschutz im Kanton Aargau veröffentlicht. Er gibt Auskunft über verschiedene Erhebungen für das Jahr 2022, bildet Entwicklungen ab und ermöglicht Vergleiche auf innerkantonaler und interkantonaler Ebene. Sowohl die Anzahl Personen mit einer Erwachsenenschutzmassnahme, wie auch die Zahl der betroffenen Kinder mit einer Kindesschutzmassnahme hat leicht zugenommen. Während die Quote der von einer Massnahme betroffenen Erwachsenen mit rund 13 von 1’000 Erwachsenen (1 %) tiefer liegt als im schweizerischen Durschnitt, fällt die Quote der Kindesschutzmassnahmen mit rund 33 von 1’000 Kindern (3 %) im schweizweiten Vergleich leicht höher aus. Sowohl im Kindes- wie auch im Erwachsenenschutz war es in rund einem Drittel der neu eingegangenen Gefährdungsmeldungen nicht nötig, eine behördliche Massnahme zu errichten.
Quelle: Gerichte Kanton Aargau
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