Warum fahren Rettungswagen manchmal wie „in Zeitlupe“?
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie einmal von einem Rettungswagen in Zeitlupe überholt werden: Die Fahrerin oder der Fahrer hat bestimmt Gründe.
Wenn Sie an den Rettungsdienst denken, dann wohl zuerst an zügige Blaulichtfahrten. Natürlich fallen wir dann am meisten auf, wenn wir mit Blaulicht und Sirene möglichst rasch und lautstark durch den Zürcher Verkehr manövrieren. Es gibt aber auch Einsätze, bei denen es gilt, so vorsichtig wie möglich von A nach B zu gelangen.
So auch an einem späten Sommernachmittag, als wir ins Waidspital gerufen wurden. Ein dringlicher Transport ins Unispital stand an. Eine junge Frau war Opfer einer Auffahrkollision geworden. Am Unfallort war sie noch selbstständig aus dem Auto gestiegen, hatte aber über verdächtige Schmerzen im Nacken geklagt. Der zuständige Rettungsdienst immobilisierte die Patientin vorsichtshalber und brachte sie ins nahegelegene Waidspital zur weiteren Abklärung. Die Ärzte untersuchten die Frau gründlich und stellten dank den Bildern des Computertomografen eine sogenannte Densfraktur fest.
Der Dens ist der zapfenähnliche, knöcherne Fortsatz des zweiten Halswirbels. Auf ihm liegt der ringförmige Atlas. Zusammen bilden sie das, was wir umgangssprachlich das Genick nennen. Dens und Atlas ermöglichen durch ihre spezielle Konstruktion die freie Bewegung des Kopfes in fast alle Richtungen. Ist der Dens gebrochen, wird die Halswirbelsäule äusserst instabil und bereits eine geringe Verschiebung der Wirbel kann zu Verletzungen des Rückenmarks führen – was gravierende Folgen bis hin zur Lähmung haben kann.
Als wir im Waidspital eintrafen, lag die junge Patientin bereits gut verpackt in einer Vakuummatratze, die ihren ganzen Körper stabilisierte. Mit vereinten Kräften hoben wir sie auf unsere Trage und luden sie vorsichtig in den Rettungswagen. Als Fahrer war mir klar: Eine rasante Blaulichtfahrt wird das nicht. Die kleinste Unebenheit der Strasse oder ein brüskes Bremsmanöver könnten dramatische Folgen für die Patientin haben. Wie auf rohen Eiern fuhr ich also auf die Strasse und rollte mit eingeschaltetem Warnblinker in Richtung Bucheggplatz davon. Vor grossen Kreuzungen schaltete ich das Sondersignal ein, um den Weg freizubekommen. Danach fuhr ich in gemächlichem Tempo weiter und drosselte die Geschwindigkeit teils bis auf Schritttempo, um allfällige Schläge der Strasse abzudämpfen.
Natürlich wunderten sich viele Verkehrsteilnehmende, und manche ärgerten sich auch. Verständlich! Wieso fährt ein Rettungswagen mit Sondersignal im Schritttempo an der Kolonne vorbei bis zur Ampel, um dann im Schritttempo ohne Sondersignal weiterzufahren? Ich wünschte mir eine LED-Leuchtschrift ans Heck meines Wagens: «Achtung, besonders delikate Fahrt!» oder so, um die verunsicherten Automobilisten zu informieren und den einen oder anderen verständnislosen Blick abzuwenden. Aber für einen solchen Einsatz gibt es natürlich kein spezielles Warnsignal. Nach einer guten halben Stunde hatten wir den kurzen Weg ins Unispital geschafft und konnten die eingepackte Frau den Spezialisten im Schockraum übergeben.
Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie einmal von einem Rettungswagen sozusagen in Zeitlupe überholt werden: Die Fahrerin oder der Fahrer hat wohl Gründe und will Sie nicht ärgern.
Quelle: Stadt Zürich / Artikel von Toby Merkli
Bildquelle: Stadt Zürich