Jüdische Friedensaktivisten verteidigen Günter Grass

Nach dem israelkritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass gehen die Wogen weiter hoch. In seinem Prosagedicht warnt der Schriftsteller vor einem israelischen Erstschlag gegen den Iran, gipfelnd in der zentralen Aussage: „Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Bei einem Grossteil der deutschen Medien wie auch bei führenden Vertretern in Israel löste Grass’ Gedicht helle Empörung aus. Eine Phalanx von Kritikern wirft dem Literaturnobelpreisträger nun Antisemitismus vor. Im hohen Alter schlage Grass den Bogen zu seiner NS-Jugend, in der er als 17-Jähriger (!) zur Waffen-SS eingezogen wurde, lautet der ungeheuerliche Vorwurf.

Israelische Rechte wirft Grass Antisemitismus vor

Der israelische Innenminister Eli Jischai von der strengreligiösen Shas-Partei erklärte Grass zur „unerwünschten Person“ und verhängte über ihn eine Einreiseverbot. Sogar die Aberkennung des Nobelpreises forderte Jischai. Mit seinem israelkritischen Gedicht habe Grass eindeutig eine rote Linie überschritten. Er fache „die Flammen des Hasses gegen Israel und seine Bevölkerung an und verbreitet Ideen, die er früher unterstützt hatte, indem er selbst eine SS-Uniform trug“.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom rechten Likud-Block hatte Grass bereits am Donnerstag scharf kritisiert. Es überrasche ihn nicht, dass ein Schriftsteller, der sechzig Jahre lang seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwiegen habe, den jüdischen Staat für die grösste Bedrohung des Weltfriedens halte und ihm das Recht auf Selbstverteidigung abspreche.

Israels Aussenminister Avigdor Lieberman, der Vorsitzender der nationalistischen Partei „Israel Beitenu“ ist, warf Grass egoistische Motive vor. „Seine Äusserungen sind ein Ausdruck des Zynismus eines Teils der westlichen Intellektuellen, die als Eigenwerbung und im Willen, noch ein paar Bücher zu verkaufen, dazu bereit sind, die Juden ein zweites Mal auf dem Altar verrückter Antisemiten zu opfern“, sagte er am Sonntag bei einem Treffen mit dem italienischen Regierungschef Mario Monti.



Jüdische Friedensbewegung nimmt Grass in Schutz

Doch während aus dem rechten Lager in Israel gegen Grass scharf geschossen wird, schlagen jüdische Friedensaktivisten ganz andere Töne an: „Wir … gratulieren Günter Grass für seine aufrichtige Aussage in bezug auf die Atompolitik Israels“, heisst es in einer Stellungnahme der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“. Als Teil der Föderation „European Jews for a Just Peace“ (EJJP) setzt sich der jüdische Verein für einen lebensfähigen palästinensischen Staat und einen sofortigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten ein.

Grass verweise „mit Recht auf die überlegene Stärke der vierten Atommacht des Staates Israel und die Gefahr eines tödlichen Kriegs, der mit oder ohne Unterstützung der USA den ganzen Nahen Osten in Mitleidenschaft ziehen und möglicherweise auf die restliche Welt  übergreifen würde“.

Weiter heisst es in der Stellungnahme: „Wir verteidigen das Recht aller deutscher Bürger und Bürgerinnen die menschenverachtende Politik des Staates Israel zu kritisieren, ohne als Antisemiten diffamiert zu werden.“ Diese Taktik diene nur dazu, „jegliche Kritik an der israelischen Politik abzuwürgen, wie auch vom real existierenden Antisemitismus abzulenken“.

Ausdrücklich unterstützt die „Jüdische Stimme“ das Anliegen, das israelische Atomprogramm zu kontrollieren, um so dem Ziel eines „atomfreien Nahen Ostens“ näher zu kommen. Auch in diesem Punkt stimmen die jüdischen Friedensbewegten mit dem heftig angegriffenen deutschen Schriftsteller überein. In seinem Gedicht hatte Grass die Hoffnung geäussert, „dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird“.

Die vollständige Stellungnahme der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“ im Wortlaut

Zur Schweizer Sektion der EJJP

 

Oberstes Bild: fulya atalay / shutterstock.com

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