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Studie: Retortenkinder haben erhöhte Herz-Kreislaufrisiken

25.09.2012 |  Von  |  Beitrag

Im Reagenzglas (in vitro) gezeugte Kinder haben womöglich ein deutlich erhöhtes Risiko für Herz- und Kreislauferkrankungen. Darauf weisen neuere Forschungen des Berner Herzspezialisten Prof. Urs Scherrer hin. Eltern, die sich ihren Kinderwunsch via In-vitro-Fertilisation (IVF) erfüllen wollen, erhalten damit beunruhigende Nachrichten.

Für Labore, Kliniken und Pharmakonzerne ist die Reproduktionsmedizin ein Milliardengeschäft. Die Kinderwunsch-Industrie boomt. Weltweit kamen mittlerweile geschätzt 5 Millionen künstlich gezeugte Babys zur Welt. In den USA gehen Reproduktionskliniken sogar so weit, Eltern die Vorauswahl von Föten nach Wunschgeschlecht anzubieten („Gender Selection“).

Risiken der Reproduktionsmedizin wurden von der Kinderwunsch-Branche jahrelang geleugnet oder kleingeredet. Doch neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass es keineswegs gleichgültig für die spätere Gesundheit von Kindern zu sein scheint, ob sie auf natürlichem oder künstlichem Wege gezeugt wurden. Konkret geht es um negative Folgen für das Herz-Kreislauf-System von Retortenkindern, wie der Herzspezialist Urs Scherrer vom Berner Inselspital und sein Team herausfanden.

Retortenkinder: Steifere Blutgefässe und verdickte Halsschlagader

Untersucht wurden während vier Jahren 122 Kinder auf Kreislauf-Besonderheiten. 65 dieser Kinder waren durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas entstanden, 57 auf natürlichem Weg. Das Resultat: Retortenkinder wiesen gegenüber natürlich gezeugten Kindern steifere Blutgefässe und verdickte Halsschlagader-Innenwände auf. Dies bedeutet später ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko.

Durchgeführt wurde auch eine Vergleichsstudie mit 60 teils künstlich, teils natürlich gezeugten Kindern auf dem Jungfraujoch. Auf Europas höchster Zugstation wurde der Lungenarteriendruck der Kinder gemessen. Der Blutdruck in der Lungenschlagader war bei den Retortenkindern 30 Prozent höher als bei den natürlich gezeugten Kindern. „In der Biologie sind 30 Prozent eine beachtliche Differenz“, so Studienleiter Urs Scherrer. Zumindest theoretisch kann das ein erhöhtes Risiko bedeuten, an einem Höhenlungenödem (= Flüssigkeitsansammlung in der Lunge) zu erkranken – mit der Folge schwerer Atemnot.

Genetische Veränderungen durch künstliche Befruchtung

Als Ursache für die erhöhten Gesundheitsrisiken stehen genetische Veränderungen durch die künstliche Zeugung im Labor im Verdacht. Schon früh hatten die Forscher vermutet, dass das Problem mit der Nährflüssigkeit zu tun haben könnte, in der sich Ei und Spermien begegnen. Dazu Urs Scherrer: „Bei einer In-vitro-Befruchtung sind sowohl das Ei wie die Spermien einer Reihe von Manipulationen ausgesetzt. Sie werden in Flüssigkeiten gebadet, deren Zusammensetzung manchmal nicht völlig klar ist. Wir vermuten nun, dass sich all diese Manipulationen auf die Regulierung gewisser Gene auswirken könnten, die wiederum wichtig sind für die Regulierung des Herz-Kreislauf-Systems.“

Schalt-Mechanismen im Erbgut sorgen dafür, dass bestimmte Gene im Körper zu einem gewissen Zeitpunkt aktiv oder inaktiv geschaltet werden. Viele dieser Gen-Schalter werden direkt nach der Befruchtung der Eizelle sowie kurz vor und nach der Geburt aktiviert. Die Forscher vermuten, dass krankhafte Störungen im Verlauf dieser kritischen frühkindlichen Phasen zu einer falschen Regulation der Gen-Schalter führen.

Retortenmäuse zeigen die gleichen Symptome

Welche Mechanismen genau zu den Funktionsstörungen führen, konnte im Tierversuch nachvollzogen werden. So wiesen Retortenmäuse unter „Jungfraujoch“-Bedingungen die gleichen Symptome wie Retortenkinder auf. Ausserdem vererbten sie die Symptome auch weiter. Die Genetikerin Ariane Giacobino vom Universitätsspital Genf untersuchte entnommene Venen und Aortaproben der in vitro gezeugten Mäuse. Sie entdeckte, dass durch die künstliche Befruchtung im Reagenzglas eine von vier Basen der DNA verändert wird. Das behindert offenbar die Entwicklung von Genen, die wichtig für die Regulation des Kreislaufs sind.

Eine Lösung für das Problem scheint jedoch in Sicht zu sein: Nachdem bereits eine japanische Studie gezeigt hatte, dass Melatonin die Qualität der Eizellen verbessert, fügten die Schweizer Forscher dem Nährboden dieses Hormon bei. Tatsächlich hatten die Forscher Glück. „Bei den erwachsenen In-vitro-Mäusen waren die Herz-Kreislauf-Funktionen absolut normal und gleich wie bei der Kontrollgruppe“, berichtet Urs Scherrer. Doch noch weiss niemand, ob so auch die Herz-Kreislauf-Funktionen bei künstlich gezeugten Kindern normalisiert werden können.

Auswirkungen für Retortenkinder ab 40. Lebensjahr

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt merken die Retortenkinder von erhöhten gesundheitlichen Risiken noch nichts. Vorläufig geht es ihnen gut. Scherrer: „Die Kinder werden die gesundheitlichen Probleme ungefähr zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr in vollem Ausmass zu spüren bekommen.“ Die erste Person, die im Reagenzglas gezeugt wurde (die Britin Louise Brown), ist heute 34 Jahre alt.

Anlass zur Panik sieht Studienleiter Urs Scherrer jedoch nicht. „Es besteht kein Grund zur Panik! Betroffene sollten aber andere Herz-Kreislauf-Risikofaktoren vermeiden und möglichst gesund leben. Das heisst unter anderem genügend Bewegung, viel Gemüse und Früchte à la Mittelmeer-Küche und aufs Rauchen verzichten.“ Ein gesunder Lebensstil sei die beste Vorsorge.

 

Quellen: 3sat.de/mediathek,  insel.chcirc.ahajournals.org
Oberstes Bild: © Monkey Business Images – shutterstock.com

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