Schweizer Armee: Eindrücke einer Peacekeeperin in Kaschmir
Seit 2012 beteiligt sich die Schweizer Armee an der United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) in Kaschmir.
Mit ihrem Einsatz als Militärbeobachterin in dieser Mission leistet Hauptmann Vanessa von Viràg ihren vierten Einsatz in der militärischen Friedensförderung.
Text: Hauptmann Vanessa von Viràg, Militärbeobachterin der UNMOGIP
Nach einer mehrstündigen Fahrt über Serpentinenstrecken im Gebirge entlang der Demarkationslinie (LoC) auf der Seite des Kaschmir-Gebiets unter pakistanischer Verwaltung erreicht unser 4x4Geländewagen ein weit abgelegenes, kleines Dorf, um die heutige Aufgabe zu erledigen. Gemäss der Resolution 307 des UNO-Sicherheitsrates sind meine beiden Kollegen und ich als Militärbeobachter der UNO (UNMOs) unter anderem dafür zuständig, Beobachtungsposten entlang der LoC zwischen den Kaschmir-Gebieten unter pakistanischer (PAK) und indischer Verwaltung (IAK) einzurichten, zu patrouillieren, Militäreinheiten des Gastlandes zu besuchen und Zwischenfälle zu untersuchen, die zu einem Bruch des Waffenstillstands geführt haben oder führen können. Für heute jedoch ist eine andere häufige UNMO-Aufgabe geplant: der Besuch eines ausgewählten Dorfes. Bei diesen Besuchen tauchen wir ein in die Welt der Einheimischen und kommunizieren mit lokalen Autoritäten vor Ort, um das aktuelle Klima und die Lage in dem betreffenden Gebiet besser einschätzen zu können.
Männer dominieren das Strassenbild
Während wir langsam über die ungepflasterte und enge Dorfstrasse fahren, sammeln wir erste Eindrücke von dem Ort mit Häusern und vielen kleinen Geschäften, in denen Obst und Gemüse oder Fertigprodukte angeboten werden. Nur wenige Menschen stehen draussen und suchen Schatten an den Wänden, einige sitzen in den Läden und unterhalten sich zu zweit oder in kleinen Gruppen. Alles wirkt normal, ruhig und friedlich. Doch sofort merke ich, dass etwas fehlt. Die gesamte Strasse ist voller Menschen, doch nicht eine Frau und nicht ein Mädchen ist zu sehen. Hier gibt es ausschliesslich Männer, junge Männer, alte Männer, Buben. In den vielen Monaten, die ich auf Patrouille in Kaschmir verbrachte, habe ich es mir selbst zur Herausforderung gemacht, bei unseren Besuchen in den Dörfern wenigstens eine Frau zu sehen und auf sie zuzugehen. An den meisten Tagen war ich nicht erfolgreich. In einer muslimischen, patriarchalischen Gesellschaft, in der Männer fast alle Aspekte des täglichen Lebens dominieren, ist die Frau nach wie vor an die eigenen vier Wände gebunden. Die meisten halten sich zuhause auf, wo sie ihre Kinder erziehen, oder arbeiten zusammen mit anderen Frauen auf den Feldern.
Spagat zwischen den Kulturen
Als wir das UNO-Fahrzeug verlassen, tragen wir unsere blauen UNO-Westen und eine blaue Mütze oder ein blaues Beret. Damit ist sichergestellt, dass uns die Menschen eindeutig erkennen. Die UNO ist seit 1949 im Kaschmir-Gebiet vertreten, weshalb uns der Grossteil der Bevölkerung kennt. Unsere Aufgabe ist es nach wie vor, die Menschen über das Mandat der UNMOGIP und unsere Rolle als UNMOs aufzuklären. Heute gehen wir zunächst die Strasse hinunter und grüssen die Leute um uns herum freundlich. Die meisten grüssen zurück, winken, lächeln vorsichtig oder nicken uns zu. Plötzlich geht ein alter Mann mit einem kräftigen Lächeln im Gesicht und ausgestreckter Hand auf uns zu. „Herzlich willkommen“, sagt er und bleibt vor meinem koreanischen Kollegen stehen, dessen Hand er kräftig schüttelt. Dasselbe tut er mit meinem italienischen Kollegen. Derweil halte ich mich leicht im Hintergrund, daher sieht er erst, als er direkt vor mir steht, dass ich kein Mann bin. Auf einmal ist er wie erstarrt. Er zögert kurz und beschliesst dann zu gehen, ohne mich auch nur anzusehen.
Ich weiss um die lokalen Bräuche und die traditionellen Aspekte einer Religion, die es Männern und Frauen verbietet, miteinander zu sprechen, wenn sie nicht verheiratet oder verwandt miteinander sind. Und trotzdem erinnere ich mich, wie stark mich dies in den ersten Wochen hier traf. Zum Glück haben nicht alle Begegnungen mit Einheimischen solche Reaktionen hervorgerufen, doch ist dies sicherlich ein dominantes Thema. Da ich seit vielen Jahren in der Schweizer Armee diene, ist die Frage, wie ich meinen Platz als Frau finde und verteidige, nichts Neues für mich. Doch was ist der richtige Kompromiss in dieser Umgebung für eine Frau als Peacekeeperin? Wie kann sie sich an die lokalen Traditionen des Gastlandes anpassen, ohne ihre eigenen Werte als freie Frau, die den Männern ebenbürtig ist, aufzugeben? Dieser Spagat ist manchmal eine echte Herausforderung.
Bildung für Mädchen keine Selbstverständlichkeit
Nachdem der alte Mann sich von mir abgewendet hat, lädt er uns zum Chai ein, dem berühmten Tee der Gegend. Gastfreundschaft wird in der Kaschmir-Region grossgeschrieben, Fremde werden stets gut umsorgt und es gilt als unhöflich, eine Einladung abzulehnen. Nach einer kurzen Chai-Pause und einem Schwatz in seinem Garten steuern wir den Ort an, dem unsere heutige Aufgabe gilt: die Oberschule vor Ort. Bildung ist in jeder Gesellschaft unerlässlich für die soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung. Sie ist auch eines der mächtigsten Werkzeuge zur Frauenförderung und im Kampf um Gleichberechtigung. Wie überall ist auch in Kaschmir die Bildung eine wichtige Säule, doch in ländlichen Gemeinschaften steht Mädchen der Zugang zur Schule nur selten offen. Der Leiter der Oberschule empfängt uns, und nur wenige Minuten nachdem das Treffen begonnen hat, werde ich aufgefordert, meine beiden UNMO-Kollegen zu verlassen und mich zu fünf Lehrerinnen in einen separaten Raum zu gesellen. Bei diesem Gespräch erhalte ich Einblicke in das Bildungssystem, die aktuelle Lage und spezielle Probleme.
Einsatz als Militärbeobachterin lohnt sich
Nach dem Treffen führen mich die Lehrerinnen zurück zu meinen Kollegen, die in der Halle auf mich warten. Zu meiner Überraschung entdecke ich nun auch etwa 60 Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren. Ich stelle mein Team und mich vor und erkläre in einfachen Worten unsere Aufgabe innerhalb der UNMOGIP-Mission. Als ich mich erkundige, ob es noch Fragen gibt, hebt ein kleines Mädchen die Hand: „Kann ich bitte ein Autogramm haben?“. Damit ist das Eis gebrochen. Innerhalb weniger Minuten sind die schüchternen und wohlerzogenen jungen Damen alle um mich versammelt; sie lächeln, lachen, stellen viele Fragen und betteln alle um meine Aufmerksamkeit. Ein erhebender Augenblick, als ich spüre, wie all diese Gesichter sich erhellen, nur weil wir da sind. Der Einsatz für den Frieden als Militärbeobachterin ist eine ganz besondere Erfahrung – herausfordernd, aber mitunter auch sehr inspirierend.
Quelle: Schweizer Armee
Bildquelle: Schweizer Armee