Graffiti und Street Art – Öffentliches Ärgernis oder Kunst im öffentlichen Raum?

Die Liebe zu ihrer Kunst könnte für zwei Leipziger Graffitisprayer schmerzhafte Folgen haben. Die Zeitungen in Deutschland berichteten Ende 2014, so »BILD« im November ‒ »Graffiti auf eine U-Bahn in Singapur sprühen? Keine gute Idee!« (21.11.) und die »Leipziger Volkszeitung« im Dezember ‒ »Zwei Leipzigern drohen Stockhiebe« (18.12.) ‒ über zwei 21-jährige Männer, die in Singapur des Vandalismus angeklagt sind: einen U-Bahnwagen mit Graffiti besprüht zu haben.

Der für seine hohen Ansprüche an Sauberkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum sprichwörtliche Stadtstaat Singapur kennt hier im Strafrecht kein Pardon. Bei Verurteilung drohen eine Geld- oder Haftstrafe sowie drei bis acht Stockschläge mit einem einem harten Palmenstock (Rattanstock), knapp unterhalb der Gesässbacken unter Aufsicht eines Arztes.

Im Jahr 2010 war ein 32-jähriger Schweizer Graffitisprayer, der in Singapur ebenfalls eine U-Bahn besprüht hatte, zu drei Stockschlägen und fünf Monaten Haft verurteilt worden. Der Richter in seiner seiner Urteilsbegründung: »Er wusste, was er tat. […] Das war kalkuliertes kriminelles Verhalten.«

In Leipzig, der »Graffiti-Hochburg in Sachsen«, verursachte die Beseitigung illegaler Graffiti ‒ die Polizei spricht von 200 bis 250 illegalen Sprayern ‒ geschätzte Kosten von zuletzt zwei Millionen Euro im Jahr.

Zwischen Sachbeschädigung und Kunst?

Die Meinungen zu Graffiti und Street Art sind geteilt und stehen sich in der Stadtgesellschaft ‒ beide sind Phänomene des städtischen Lebens ‒ oft unversöhnlich gegenüber. Stadtverwaltungen, Hauseigentümern und Verkehrsunternehmen sind Graffiti und Street Art mehr als blosse Ärgernisse, Graffiti- und Street-Art-Künstlern ihre unverwechselbaren künstlerischen Ausdrucksformen; den einen »Schmierereien«, die das Stadtbild verschandeln und deren Beseitigung teuer ist, den anderen »Kunst«, die dem öffentliche Raum ‒ Häusern, Mauern, Plätzen, auch Strassenbahnen und Eisenbahnzügen ‒ ein individuelles Gesicht gibt. ‒ Das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums prallt auf das Recht der Freiheit der Kunst.

Graffiti und Street Art vor Gericht

Rechtlich wird die unerwünschte (illegale) Besprühung oder Bemalung eines Objektes als Sachbeschädigung und damit als eine Straftat angesehen. In der gerichtlichen Auseinandersetzung um illegale Graffiti und Street Art greifen in der Schweiz der Artikel 144 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren), in Deutschland die Paragrafen 303 und 304 des deutschen Strafgesetzbuches (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 2 bzw. 3 Jahren) und in Österreich der Paragraf 125 (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten), gegebenenfalls auch Paragraf 126 (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren) des österreichischen Strafgesetzbuches.



Graffiti und Street Art als Kunst im öffentlichen Raum

Zunächst vorneweg: Nicht jede mit Spraydosen gesprühte Darstellung vermittelt ein ästhetisches Erlebnis und manches Graffiti wird zu Recht als »Schmiererei« bezeichnet. Ebenso sind Malereien auf Strassenpflaster, Asphalt und an Häuserfassaden ‒ Street Art ‒ nicht eines jeden (»ordnungsliebenden«) Stadtbewohners Sache und in manchen Fällen tatsächlich Sachbeschädigungen.

In der Grafitti- und der Street-Art-Szene wird illegal und legal gesprüht und gemalt. Alle Sprayer und Maler sehen sich als Künstler im öffentlichen Raum und folgen einem eigenen Leitbild von Kunst im öffentlichen Raum.

In ihren Werken vollziehen die Graffiti- und Street-Art-Künstler nach eigenem Selbstverständnis im kreativen Spielen mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten ‒ der persönlichen Weltsicht und Bildsprache ‒ Akte der künstlerischen Selbstverwirklichung und Selbstpräsentation.

Als Motivation im Hintergrund steht besonders der Anspruch, Städtebilder ästhetisch aktiv mitzugestalten und damit ausserhalb der etablierten Orte der Kunstvermittlung einen frei von sozialen Schranken für jedermann und jedefrau zugänglichen öffentlichen Kunstraum zu schaffen. Möglichst viele Menschen sollen die Kunstwerke in ihrem Alltag und als Teil ihres Alltags wahrnehmen können.

In den Jahrzehnten seit Ende der 1960er-Jahre hat die Graffiti- und Street-Art-Szene in »illegalen und legalen Schöpfungsakten« bemerkenswerte künstlerische Werke hervorgebracht, die allgemeine Anerkennung als Kunst und ihre Schöpfer als Künstler gefunden haben. Nicht wenige, die einst als »illegale« Sprayer und Streetarter heimlich nachts in dunklen Ecken gesprüht und gemalt haben, stehen heute als anerkannte Graffiti- und Street-Art-Künstler im Rampenlicht der ganz grossen Kunstszene.

Graffiti und Street Art als öffentlich anerkannte Kunst

Die aktuelle Graffiti- und Street-Art-Szene hat so in weiten Teilen die Zone der Illegalität verlassen, obwohl es unter ihren Angehörigen ‒ »natürlich« ist im wortwörtlichen Sinn hier angebracht ‒ weiterhin auch »Illegale« geben wird ‒ das Spannungsfeld von Kunst und Sachbeschädigung also bestehen bleiben wird. »Illegalität« ist gewissermassen ein ursprüngliches Markenzeichen von Graffiti und Street Art, die beide Ende der 1960er-Jahre unter Jugendlichen in der Gang-Subkultur New Yorks »illegal« entstanden sind.

Heute erhalten Graffiti- und Street-Art-Künstler Aufträge von öffentlichen und privaten Auftraggebern. Städte weisen legale Sprayflächen für junge Graffiti-Talente aus. Auch Graffiti-Wettbewerbe und Street-Art-Festivals werden ausgerichtet; beispielsweise »Weltstars machen Dresden bunt« im Jahr 2014 mit Stars der internationalen Sprayer-Szene.

Graffiti-Kunst kann man heute auch studieren: an der Hochschule Luzern im Studiengang »Art in Public Spheres«. Der Studienabschluss qualifiziert die Absolventen zu wissenschaftlichen Experten für Kunst im öffentlichen Raum.

Graffiti und Street Art: Definition und Ursprünge

Graffiti und Street Art näher zu definieren und voneinander abzugrenzen ist gar nicht so einfach. Beide künstlerischen Ausdrucksformen weisen erhebliche Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Ganz allgemein gesagt geht es bei Graffiti um künstlerisch mehr oder weniger anspruchsvoll gestaltete Schriftzüge, Zeichen und Symbole. Bei Street Art stehen bildliche Darstellungen im Mittelpunkt. Die Grenzen zwischen Graffiti und Street Art sind fliessend: Ob ein Schriftzug beispielsweise mehr als Schrift oder als Bild angesehen wird, hängt wesentlich vom Betrachter ab.

Die »Malunterlage« für beide, Graffiti und Street Art, sind öffentlich sichtbare oder zugängliche Objekte. Gemalt, geschrieben oder gezeichnet werden die Darstellungen bevorzugt mit Spraydosen, aber auch Marker, Pinsel und Malerrollen kommen zum Einsatz.

Die Ursprünge von Graffiti weisen in das Altertum. Die verkürzte symbol- oder zeichenhafte Darstellung von Namen und Gegenständen an Mauern und Wänden findet sich bereits im alten Ägypten und im antiken Rom.

In ihrer heutigen Form sind Graffiti Ende der 1960er-Jahre in New York entstanden. Street Art stellt eine Weiterentwicklung dar. Beide blieben zunächst ein US-amerikanisches Phänomen bis sie in den 1980er-Jahren auch in Europa populär wurden.

Zwischen Authentizität und Kommerzialisierung

Bei Weitem nicht jeder Graffiti- und Street-Art-Künstler sieht die Legalisierung und wachsende öffentliche Anerkennung seiner Kunst mit Freude. Der negative Begleitaspekt: Die Kommerzialisierung hat längst begonnen und mehr und mehr haben haben Graffiti- und Street-Art-Elemente auch in Marketing und Werbung Einzug gehalten. Dadurch verlieren, so die berechtigte Befürchtung, Graffiti und Street Art ihre künstlerische Authentizität.

 

Oberstes Bild: © Neale Cousland – Shutterstock.com

MEHR LESEN